grünes blatt 1/2-96 - Wunsch und Wirklichkeit:
Wunsch und Wirklichkeit
Brief eines Sympathisanten
Lieber E.E., wenn ich Deinen Beitrag lese, dann könnte ich denken, Du
gehörst weniger zu den dynamischen Greenkids und mehr zu den resignierten
Greenoldies. Aber seit einem Gespräch in Eurer Zentrale Geißlerstraße weiß
ich, daß es nicht eure Absicht ist, über die MVB nur zu meckern, sondern
daß Ihr zu unseren natürlichen Verbündeten gehört. Es wäre wohl auch nicht
o.k., wenn junge umweltbewußte Leute und die MVB sich gegenseitig das Leben
schwer machten. So denke ich mal: Wir wollen euch nicht Platzangst machen
und Erstickungsanfälle riskieren, daß könnt ihr uns glauben. Dafür glauben
wir euch, daß mit solchen Sätzen wie im grünen blatt 4/95 nicht unsere
Fahrgäste vergraulen wollt.
Zur Sache: Natürlich sind die Bahnen manchmal voll. Aber das erfreut
Euch doch auch. Wer Bahn fährt, macht keine Abgase. Und wer um 6.45 Uhr
mitfahren will, der weiß vorher, daß es voll ist, und stellt sich darauf
ein.
Wir würden gerne jedem einen Sitzplatz anbieten. Aber ein solcher
Wageneinsatz wäre nicht zu bezahlen. Außerdem möchten wir uns auch nicht
nachsagen lassen, wir beförderten den ganzen Tag nur warme Luft, wenn nachher
die Bahnen nur zu einem Viertel oder noch weniger besetzt sind. Es gibt noch
andere Punkte, wo sich Wünsche und Wirklichkeiten beißen, da gibt es nur den
Kompromiß, der nie 100 % befriedigend ist.
Z.B. attraktiver ÖPNV - das ist so ein Schlagwort - den möchten alle
haben, den möchten wir allen anbieten. Wie sieht der aber aus? - Attraktion
kann Glanznummer bedeuten: Immer, wenn ich komme, kommt auch die Bahn? Immer,
wenn ich einsteige, ist gleich ein Platz frei? Immer, wenn ich knapp bei
Kasse bin, kann ich es auch billiger haben? - Das sind @Wunschbilder@.
Wer so etwas den Leuten erzählt, bringt nur Enttäuschung, weil das kein
öffentlicher Verkehr leisten kann. Wer solche Wünsche hat, der sitzt
nachher doch in seinem Auto, das immer noch bequemer ist als die Bahn
und es auf längere Zeit auch bleiben wird. Attraktiv bedeutet aber auch
anziehend: Das ist beim ÖPNV anders als zwischen Männer und Frauen, wo
die Anziehungskraft zunächst oft mehr über die Hormone kommt. Die
Anziehungskraft von Bahn und Bus in der Stadt geht zuerst immer durch
Kopf und Willen. Anziehend ist der öffentliche Verkehr für den, der sich
Gedanken über die Stadt und die Menschen und die Umwelt. Anziehend wird er
durch die Kenntnis der Zusammenhä
nge und durch die Bildung der eigenen
Meinung. Und schließlich wird daraus ein Wille: Ich will eine Stadt
ohne Autoschlangen, ich will gesunde Luft, ich will den ÖPNV - und bin
bereit, dafür auch Unbequemlichkeit zu akzeptieren. Auf diese
Weise wird der ÖPNV anziehend.
Apropos Unbequemlichkeiten: Der Kostenvergleich zwischen Auto und
Straßenbahn ist nur dann für's Auto günstig, wenn man sich selbst beschummelt
und Anschaffung, Werkstadt, Versicherung und und und nicht mitrechnet, das
meinte Felix Husmann. Recht hat er. Und es gibt noch mehr Schnittpunkte der
Meinungen von Greenkids und MVB AG.
J. Krüger, MVB AG
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